"Iatrogen" - ein Wort, das du kennen solltest
Vielleicht hast du es letzte Woche auf Instagram gesehen: ich habe mich fürchterlich über die neuen Diabetes Leitlinien aufgeregt, die Ende des letzten Jahres erschienen sind. Aus diesem Grund habe ich meine Gedanken noch einmal strukturiert und in einem Blogartikel zusammengefasst.
Iatrogen ist ein Adjektiv, das beschreibt, dass eine medizinische Maßnahme nicht geholfen, sondern sogar geschadet hat. Warum das auf die neuen Diabetes Leitlinien zutrifft, erfährst du in diesem Artikel.
Geblendet vom gewichtszentrierten Paradigma
Die publizierenden Wissenschaftler:innen sind geblendet vom gängigen Gesundheitsparadigma, wo eine kurzfristige Gewichtsreduktion und eine kurzfristige Verbesserung der Gesundheitsparameter wichtiger sind, als die langfristige Umsetzbarkeit der Empfehlungen und der langfristige Gesundheits-Outcome.
Versteh mich nicht falsch. Auf der einen Seite lässt sich die kurzfristige Verbesserung der Zuckerwerte physiologisch nachvollziehen. Natürlich wirkt Insulin besser, wenn die Fettbarriere zur Zelle kleiner ist. Andererseits: was um Himmels Willen bringt uns dieses Wissen, wenn das abgenommene Gewicht in mehr als 80% der Fälle zurückkommt und Gewichtsschwankungen viel schlimmer für die Gesundheit sind, als das Halten des Ausgangsgewichtes?
Für die Kritik an den Leitlinien habe ich nicht mal wirklich neue Studien raussuchen müssen. Fast alle Erkenntnisse sind bereits in den Leitlinien vorhanden – die Autor:innen sind also nicht an der Recherche, sondern an der Interpretation gescheitert. Die Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ein gängiges Paradigma widerlegen, heißt in der Fachsprache übrigens „Paradigmeneffekt“.
Skurk et al., 2021
Das A*ipositas-Paradoxon
Was wir hier sehen macht mich wirklich wütend. Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass Menschen mit Mehrgewicht und Stoffwechselerkrankungen länger leben, als Menschen mit BMI N*rmalgewicht. Weil diese mehrfach belegte Erkenntnis aber gegen das gängige Paradigma spricht (N*rmalgewicht = am gesündesten), beschreiben wir das Phänomen als „Paradoxon“ und empfehlen trotzdem Gewichtsreduktion.
Die angehängte mögliche Erklärung ist ebenfalls mehr als fragwürdig. In den restlichen Leitlinien wird vielfach über Gewichtsreduktionkonzepte geschrieben: von 600 kcal täglich (ja, ernsthaft), über Formuladiäten bis hin zu Intervallfasten ist alles dabei. Eine allgemeine Gewichtsreduktion mit gleichzeitigem Erhalt der Muskelmasse ist defakto UNMÖGLICH. Ganz einfach weil es aus körperlicher Sicht schlauer ist, das Hungertrauma mit einem Abbau der Muskelmasse auszugleichen. Muskeleiweiß bringt kurzfristig Energie und reduziert langfristig den Energieverbrauch. Fett = Vorratskammer. Es verbraucht kaum Energie und sichert durch einen hohen Energiegehalt ein längeres Überleben. Wir haben übrigens aus genau diesem Grund sehr viele Enzyme, die Eiweiß abbauen und in Energie umwandeln und kaum Enzyme, die dasselbe beim Fettgewebe tun.
Skurk et al., 2021
Weight Cycling
Den Begriff Weight Cycling solltest du unbedingt kennen. Er beschreibt das vielfach erhöhte Risiko Stoffwechselerkrankungen zu entwickeln bzw. vorhande zu verschlechtern, nur durch permanente größere Gewichtsschwankungen. Wir wissen...
dass 80% das Gewicht wieder zunehmen und bis zu 2/3 Personen nachher sogar mehr wiegen als vorher man (Mann et al., 2007) (bei besonders restriktiven Ernährungsumstellungen liegt die Quote übrigens bei bis zu 95% „scheitern“)
dass größere Gewichtsschwankungen und eine weitere Zunahme bei T2D mit einer höheren Sterblichkeit verbunden sind
dass ein stabiles Körpergewicht einen besseren Outcome für die allgemeine Gesundheit hat, als Schwankungen
Und trotzdem wird Abnehmen empfohlen?! Mit extrem restriktiven Maßnahmen, die hochwahrscheinlich zu Gewichtsschwankungen und einer weiteren Gewichtszunahme führen?! Der darunter stehende Hinweis, dass Weight Cycling vermieden werden soll, ist im Kontext der praktischen Realität ein wirklich schlechter Scherz.
Gewichtsdiskriminierung/Stigmatisierung, Trauma und der sozioökonomische Status, sowie deren Auswirkung auf das Essverhalten und die Gesundheit wird in den Leitlinien mit keinem Wort erwähnt.
Ich hoffe ihr versteht jetzt, warum diese Leitlinien „iatrogen“ sind. Sie helfen nicht, im Gegenteil. Die Umsetzung dieser Behandlungsrichtlinien in Bezug auf Ernährung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr viel mehr Schaden anrichten, als einfach gar nichts zu tun.
Haben wir Alternativen?
Skurk et al., 2021
JA! Eine 2015 veröffentlichte Metaanalyse kam bereits zu dem Schluss, dass Gewichtsverlust für viele mehrgewichtige Personen mit Typ-2-Diabetes keine realistische primäre Behandlungsstrategie für verbesserte Zuckerwerte ist. Stattdessen sollte die Ernährungstherapie ein gesundes Essverhalten, eine adäquate Energieaufnahme, regelmäßige Bewegung, sowie Aufklärung und Unterstützung als primäre Ziele definieren.
(Franz et al., 2015)
Nicht um Gewicht abzunehmen, sondern um Gesundheit zu fördern.
Quellen
Franz, M. J., Boucher, J. L., Rutten-Ramos, S., & VanWormer, J. J. (2015). Lifestyle Weight-Loss Intervention Outcomes in Overweight and Obese Adults with Type 2 Diabetes: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Clinical Trials. Journal of the Academy of Nutrition and Dietetics, 115(9), 1447–1463. https://doi.org/10.1016/j.jand.2015.02.031
Mann, T., Tomiyama, A. J., Westling, E., Lew, A.-M., Samuels, B., & Chatman, J. (2007). Medicare’s search for effective obesity treatments: Diets are not the answer. American Psychologist, 62(3), 220–233. https://doi.org/10.1037/0003-066X.62.3.220
Skurk, T., Bosy-Westphal, A., Grünerbel, A., Kabisch, S., Keuthage, W., Kronsbein, P., Müssig, K., Pfeiffer, A. F. H., Simon, M.-C., Tombek, A., Weber, K. S., Rubin, D., & für den Ausschuss Ernährung der DDG. (2021). Empfehlungen zur Ernährung von Personen mit Typ-2-Diabetes mellitus. Diabetologie und Stoffwechsel, 16(S 02), S255–S289. https://doi.org/10.1055/a-1543-1293
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