Wenn mich heute jemand fragt, was gesunde Ernährung und eine gesunde Beziehung zum Essen ausmacht, kann ich ganz klar antworten, dass das Spüren und Reagieren auf körperinnere Signale eine wesentliche Rolle spielen. Und hier beginnt auch schon das Problem. Viele wissen durch den pseudowissenschaftlichen Diätindustrie-Schwachsinn nicht mehr, wie sich angenehmer Hunger und angenehme Sättigung anfühlt. Es scheint, als wären Scham und Schuldgefühle die verbreitetsten Nahrungsergänzungsmittel des 21. Jahrhunderts, was zwangsläufig zu einem Pendel der Extreme führt.
Urinstinkt Hunger
Vergiss bitte alles, was du in diversen Abnehm-Foren zum Austricksen deines Hungergefühls gelesen hast. Vielleicht konntest du bereits reflektieren, dass dein Körper schlauer ist, als jeder Schmäh, der dort zu lesen ist. Vielleicht hast du die biologische Antwort dieser Manipulationsversuche aber auch als schwache Willenskraft interpretiert. Hunger ist ein Urinstinkt, der dir sagt, dass dein Körper Nährstoffe und Nahrung braucht. Es ist ein völlig natürliches Gefühl und nichts, wofür man sich schämen muss. Wenn du nicht isst, sondern versuchst das Bedürfnis zu unterdrücken, wirst du dir selbst immer wieder zuschauen können, wie du die Kontrolle über das Essen verlierst. Biologie ist immer stärker als Willenskraft und dein Körper wird kontinuierlich dafür sorgen, dass du ihn nicht verhungern lässt.
Das Hunger-Sättigungs-Pendel
Wer erst bei extremem Hunger zu Essen beginnt, wird sehr wahrscheinlich auch erst bei extremer Sättigung aufhören können. Völlig logisch: stell dir vor, du tauchst so lange unter Wasser, bis dir wirklich fast die Luft ausgeht. Was denkst du? Wie ist der allererste Atemzug, wenn du wieder auftauchst? Natürlich keine sanfte, adäquate Inhalation. Du atmest so viel Luft ein, wie deine Lungen fassen können. Dasselbe passiert auch beim Essen.
Urinstinkt Sättigung
Sättigung sagt uns, dass der Körper ausreichend mit Energie und Nährstoffen versorgt wurde. Insgesamt ist das ein hochkomplexer Prozess, der ernährungswissenschaftlich immer noch nicht zu 100 Prozent erforscht ist. Es spielen viele unterschiedliche Mechanismen zusammen: Dehnungsrezeptoren im Magen, Hormone, Dauer der Mahlzeiteneinnahme, biochemische Rezeptoren, die Energie, Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate messen, Achtsamkeit / Sensorik spezifische Sättigung, Blutzuckerspiegel und noch viel mehr. Es ist fast unmöglich, all diese Faktoren rational zu bedenken.
Wenn Hunger und Sättigung durch Diäten, Fasten(-kuren) und andere Ernährungsregeln verschwinden, macht das Ernährung ziemlich einnehmend und kompliziert.
Tipps für die Aktivierung des Hungergefühls
Zuallererst macht es Sinn herauszufinden, wie sich Hunger anfühlt. Denke daran, dass sich Hunger immer anders zeigen kann:
Kopf: benebeltes Gefühl, Kopfschmerzen, Probleme bei der Konzentration, viele Gedanken ans Essen, Schwindel
Stimmung: launisch, gereizt, „hangry“
Energie: abnehmend, Müdigkeit, Trägheit
Magen: Signale wie Knurren, Gurgeln, Leeregefühl
Körper: zitterig, Schweregefühl
Das Aktivieren des Hungergefühls braucht viel Übung und Achtsamkeit. Wenn du herausfinden willst, ob du gerade Hunger hast, kannst du einen einfachen Body-Check mit den angeführten Punkten durchführen. Du darfst ausnahmslos immer essen, wenn du Hunger spürst.
Wenn du so gar keine Wahrnehmung für diese Signale empfindest, können einerseits Entspannungs- und Meditationsübungen assistieren, die deine innere Achtsamkeit stärken. Andererseits können fünf regelmäßige Mahlzeiten helfen, die in einem Rhythmus von zwei bis drei Stunden eingenommen werden. Dein Körper stellt sich damit wieder auf eine regelmäßige Nahrungszufuhr ein und das "Hungermeter" wird repariert.
Aktivierung des Sättigungsgefühls
Wie oben beschrieben ist das Sättigungsgefühl weitaus komplexer. Eine überaus wichtige Voraussetzung ist, dass du Störfaktoren, die Überessen triggern, behebst. Das sind zum Beispiel jede Art von Ernährungsregeln, ein Beginn der Nahrungseinnahme bei zu extremem Hunger und emotionales Essen als einzige Bewältigungsstrategie. Diätolog*innen, Psychotherapeut*innen oder klinische Psycholog*innen können dir dabei helfen. Auch hier ein Ausflug, wie sich Sättigung anfühlen kann:
Magen: leichte Dehnung/Blähung, Gefühl von Völle
Kopf: weniger Gedanken ans Essen, weniger Bedürfnis nach Essen
Stimmung: steigende Zufriedenheit, Entspannung
Energie: manche fühlen sich energetisiert, andere ein bisschen müde
Langanhaltende Sättigung wird durch ein ausgewogenes Nährstoffverhältnis gefördert. Denke daran: nicht jede Mahlzeit muss so aussehen. Gesunde Ernährung ist nicht gesund, wenn sie zwanghaft ist.
Das Sättigungsgefühl kann neben den genannten physiologischen und psychologischen Störfaktoren auch noch durch Umweltaspekte beeinträchtigt werden. Auch wenn du denkst, dass du gut im Multitasking bist, kann sich dein Hirn nur auf eine Sache konzentrieren. Das bessere Wahrnehmen der Sättigung wird in jedem Fall gesteigert, wenn du deine Aufmerksamkeit auf das Essen richtest, und gleichzeitiges Arbeiten, social media checken oder Fernsehen vermeidest. Nimm dir Zeit für’s Essen und binde möglichst viele Sinne ein: Aussehen, Geruch, Mundgefühl, Geschmack und so weiter. Iss langsam, kaue gut und mache nach der Hälfte deiner Mahlzeit eine kurze Pause, bei der du reflektierst, wo sich dein Sättigungslevel gerade befindet. Und hol dir Hilfe von den oben genannten Fachpersonen, wenn du merkst, dass du allein nicht weiterkommst.
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