Beim 38. Diätolog*innen-Kongress wurde das eingereichte Food Freedom Pilotprojekt vom Verband der Diätolog*innen mit dem 1. Platz in der Kategorie "Innovative Praxis in der Freiberuflichkeit" ausgezeichnet. In diesem Artikel findest du alle Informationen rund um das Projekt.
Wissenschaftlicher Artikel vom Diätolog*innen-Journal, Veröffentlicht 07/21 Autorin: Isabel Bersenkowitsch.
Food Freedom Pilotprojekt
Multiprofessionelle, freiberufliche Zusammenarbeit zur Steigerung der Intuitiven Ernährung und Auflösung von chronischem Diätverhalten
Problematik der Diätkultur
Die sexistische, fettfeindliche und rassistische Diätindustrie setzt jährlich weltweit ~420 Mrd. Dollar um (1). Medien vereinfachen Studienergebnisse, greifen fragwürdige Trends auf und vermitteln zunehmend, dass uns Ernährung entweder heilt oder umbringt. Diese pseudowissenschaftlichen Inhalte werden auch von unwissenden Influencer*innen ohne Fachausbildung propagiert und schaden damit der physischen und psychischen Gesundheit vieler Menschen.
Diäten und außen-definierte Ernährungsregulationen zur Gewichtsreduktion führen dazu, dass körpereigene Signale oft so lange übergangen werden, bis sie irgendwann verschwinden (2). Dadurch steuern nicht länger Körperinstinkte das Ernährungsverhalten, sondern der Kopf, was für Betroffene sehr einnehmend, belastend und kompliziert ist.
Intuitives Essen - die Lösung
Intuitives Essen ist mit weniger Heißhunger, weniger gestörtem Essverhalten und weniger emotionalem Essen verbunden. Gleichzeitig werden Selbstvertrauen, Bewusstsein der inneren Weisheit, Körperwertschätzung, eine abwechslungsreichere Ernährung und die Lebenszufriedenheit gesteigert (2).
Ziel des Food Freedom Programms ist eine multiprofessionelle Gegenbewegung zur gesundheitsschädigenden Gewichtsmanagement-Kultur zu schaffen und eine intuitive Lebensweise als Therapieform bei chronischem Diätverhalten und Essstörungen einzusetzen. Für mehr Gesundheit und Lebensqualität - und zwar unabhängig vom Körpergewicht.
Fragestellung: Gemessen an der Intuitive Eating Scale: wie wirksam sind die Inhalte des Food Freedom Pilotprojektes?
Methode
Im Minnesota Starvation Experiment wurden völlig gesunde Männer auf Diät gesetzt (Zufuhr ~1500 kcal, entsprach 50% des Tagesbedarfs) und entwickelten dadurch viele Symptome, die wir von chronischen Diäten, gestörtem Essverhalten und Essstörungen kennen. Im Schnitt dauerte es fünf Monate, bis die Männer wieder eine gesunde Beziehung zum Essen aufbauen konnten (3) in (2). Aus diesem Grund wurde das Food Freedom Programm mit einer Interventionszeit von 5 Monaten angesetzt, bei wöchentlichen online Terminen.
Setting Pilotprojekt
Aus zeittechnischen Gründen musste das Pilotprojekt auf 7 Wochen verkürzt werden, dennoch wurde der volle Inhalt getestet. Statt wöchentlichen Terminen gab es ein Intensivprogramm mit 3 Termine pro Woche: 02.02.21-26.03.21, jeweils Mo, Di und Fr von 18:30-20:00.
Das Programm wurde gewichtsneutral und gesundheitsorientiert geführt. Mit den Teilnehmenden hat ein diätologisches Aufnahme- und Abschlussgespräch im Einzelsetting stattgefunden. Die restlichen 20 Termine fanden im Gruppensetting mit einer Gruppengröße von bis zu 12 Teilnehmenden statt. Alle Termine wurden online per zoom durchgeführt.
Rekrutierung
Am Programm haben Frauen aus Deutschland und Österreich teilgenommen, die über den Instagram-Account ernaehrungs.revolution rekrutiert wurden. Die durchschnittliche Teilnehmerin war weiblich, 30 Jahre alt und hat eine chronische Diätgeschichte oder Essstörung hinter sich. Ausschlusskriterium war eine Essstörung mit akuter Mangelernährung nach Eigenangabe.
Quantitative Forschung
Die von Tribole und Resch adaptierte Intuitive Eating Scale wurde übersetzt und behandelte 23 Fragen in vier Kategorien: Ernährungsfreiheit (Regeln), Emotionales Essen, Hunger/Sättigung und gesunde Ernährung (4) in (2). Insgesamt konnten beim Assessment 23 Punkte erreicht werden.
Qualitative Forschung
Die Teilnehmerinnen gaben über einen nicht standardisierten, qualitativen Fragebogen Feedback zu jeder Einheit. In der letzten Kurseinheit wurde ein „5-Finger-Feedback“ durchgeführt (Daumen hoch für; darauf möchte ich hinweisen; das stand für mich im Mittelpunkt; diesen Schatz nehme ich mir mit; das kam für mich zu kurz).
Intervention
Der Aufbau der Einheiten war im Sinne des dynamischen Lernens immer gleich: theoretischer Input, praktische Übung, Reflexion und Austausch. In den ernährungstherapeutischen Gruppen wurden die Einheiten mit einem Kursbuch vor- und nachbereitet. Patriarchale Strukturen und Feminismus sind in allen Bereichen ein wesentlicher Teil der Therapie.
Inhalte
1. Diätologie: Acht Einheiten Ernährungstherapie (Gruppe) – Intuitives Essen nach dem Original von Tribole und Resch (2)(5); Aufnahme- und Abschlussgespräch (Einzel)
2. Soziologie: Fünf Einheiten Peergroup – Austausch alltäglicher Erfahrungen und gegenseitige Unterstützung; „du bist nicht allein“; Bearbeitung von soziologischen Themen wie Medien, Schönheitsideale, die Rolle der Frau, Sexualität und ähnlichem. Motto: Female Empowerment
3. Psychologie: Vier Einheiten Entspannung/Meditation – vom Kopf in den Körper - Kontakt zum eigenen Körper herstellen; Steigerung der inneren Achtsamkeit zur Reaktivierung von körpereigenen Signalen und Instinkten wie Hunger und Sättigung; Emotionsregulation
4. Klinische Psychologie: Eine Einheit Emotionales Essen – Lernen das Verhalten zu verstehen, neue Strategien zur Emotionsbewältigung
5. Sport-Physiotherapie: Eine Einheit Intuitive Bewegung – Entkoppelung von Bewegung und Abnehmen; hedonistischer Ansatz: herausfinden, was wirklich Spaß macht, um langfristig Bewegung in den Alltag zu integrieren
6. Plus Size Model: Eine Einheit Körperrespekt – Umgang mit unserer fettfeindlichen Gesellschaft; Lernen den Körper zu akzeptieren; Female Empowerment
Ergebnisse
Quantitative Forschung
Zwei Teilnehmerinnen haben frühzeitig abgebrochen, bei einer Teilnehmerin wurde das Abschluss-Assessment aus Trigger-Gründen durch den sehr frühen Recovery-Status nicht mehr durchgeführt. Diese Teilnehmerinnen wurden von der Assessment-Auswertung ausgeschlossen.
Beim Aufnahmegespräch erreichten die neun eingeschlossenen Teilnehmerinnen im Durchschnitt 13,4 Punkte auf der Intuitive Eating Scale. Beim Abschlussgespräch ergab sich ein Durchschnittswert von 19 Punkten – das ist eine Steigerung um 42% in nur sieben Wochen. Damit hat sich das Programm als sehr wirksame Methode zur Steigerung der Intuitiven Ernährung und Auflösung von chronischem Diätverhalten erwiesen.
In der individuellen Auswertung zeigte sich, dass all jene, die viel Zeit in die Vor- und Nachbereitung der ernährungstherapeutischen Einheiten mittels Kursbuch investieren konnten, deutlich mehr vom Programm profitierten.
Qualitative Forschung
Die qualitative Forschung ergab, dass sich viele Teilnehmerinnen gewünscht hätten, alle Therapeut*innen/Coaches zumindest zwei Mal zu sehen. Einige merkten an, dass eine gemeinsame Bewegungseinheit schön gewesen wäre. Im Abschlussgespräch ergab sich der Wunsch nach mehr mehrgewichtigen Therapeut*innen. Zusätzlich wurde angemerkt, dass 1,5 Stunden als Einheit zu knapp angesetzt wurde. Die Teilnehmerinnen wünschten sich eine langfristige Nachbetreuung, um von der entstandenen Community weiterhin profitieren zu können. Als Manko wurde genannt, dass es schade ist, einander nicht persönlich treffen zu können.
Adaptierung
1. Die Einheiten wurden auf bis zu 2 Stunden erweitert.
2. Es wurde eine Fitnesstrainerin ins Team geholt, die über Intuitive Bewegung und ihre Diskriminierungserfahrungen im Alltag und Fitnessbereich spricht. Ziel ist Gesundheitsförderung unabhängig vom Körpergewicht und Female Empowerment. Gleichzeitig wird mit den Teilnehmer*innen ein Workout durchgeführt, bei dem der Safer Space und Spaß im Vordergrund steht.
3. Alle Therapeut*innen und Coaches bekamen zumindest zwei Einheiten, dadurch wurde das Programm von fünf auf sechs Monate erweitert.
4. Für die Gruppe wurde eine langfristige Nachbetreuungsmöglichkeit entwickelt. Dabei werden alle zwei bis drei Monate Support-Treffen in Form von zoom-calls veranstaltet, die diätologisch geleitet werden.
5. Das Programm wird weiterhin online durchgeführt, um Personen im gesamten deutschsprachigen Raum erreichen zu können. An weiterführenden „live“ get-together Ideen wird derzeit gearbeitet.
Diskussion
Bei diesem Pilotprojekt handelte es sich um eine kleine Beobachtungsstudie ohne Kontrollgruppe / randomisiert kontrollierte Einteilung. Dass das Programm aus zeittechnischen Gründen auf ein sieben-Wochen Intensivpaket komprimiert werden musste, wird ebenfalls als Limitation gesehen.
Ausblick
Zwei Diätologie-Studentinnen der FH Oberösterreich widmen ihre Bachelorarbeiten dem zweiten offiziellen Food Freedom Turnus, der am 18. August 2021 startet. Julia Brandacher und Marie Grundl untersuchen dabei den Einfluss von Intuitiver Ernährung auf Körperwahrnehmung und gestörtes Essverhalten. Plan ist, mit den Ergebnissen dieser Bachelorarbeit den Verhandlungstisch der Krankenkassen aufzusuchen.
Isabel Bersenkowitsch, BSc.
Ernährungsrevolution®
Literatur
(1) Zeit.de: "Gab es eine Zeit, in der ich meinen Bauch nicht eingezogen habe?" (2020). https://www.zeit.de/zeit-magazin/2020/11/diaet-schlankheitswahn-koerpergefuehl-ernaehrungsumstellung/seite-3, am 30.4.2021
(2) Tribole, E., & Resch, E. (2020). Intuitive eating: An anti-diet revolutionary approach (4th edition). St. Martin’s Essentials.
(3) Keys, A., Brozek, J., Henschel, A., Mickelsen, O., & Taylor, H. L. (1950). The Biology of Human Starvation (2 Vols.). University of Minnesota Press, Minneapolis, MN
(4) Tylka, T. L. (2006). Development and psychometric evaluation of a measure of intuitive eating. Journal of Counseling Psychology, 53(2), 226–240. https://doi.org/10.1037/0022-0167.53.2.226
(5) Tribole, E., & Resch, E. (2017). The Intuitive eating workbook: Principles for nourishing a healthy relationship with food. New Harbinger Publications, Inc.
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