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Gewichtszentriert vs. Gewichtsneutral

Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem: Warum weg vom gewichtszentrierten Ansatz?




Unser Gesundheitssystem hat lange Zeit auf Gewichtsreduktion als Allheilmittel gesetzt. Übergewichtigen oder adipösen Menschen wird meist geraten: „Nimm ab, dann wirst du gesünder.“ Doch immer mehr Forschung zeigt, dass dieser rein gewichtzentrierte Ansatz nicht nur wenig nachhaltig ist, sondern auch viele unerwünschte Nebenwirkungen hat (Bacon & Aphramor, 2011)

Ein Umdenken hin zu einem gewichtsneutralen Ansatz – der Gesundheit in jedem Körpergewicht fördert – könnte daher ein wichtiger Paradigmenwechsel sein. In diesem Artikel erklären wir verständlich und wissenschaftlich fundiert, warum ein solcher Wandel nötig ist.

 

Probleme des gewichtszentierten Ansatzes

 

Ein Gesundheitsansatz, der das Körpergewicht in den Mittelpunkt stellt, bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Besonders drei Begriffe stehen dabei im Fokus: GewichtsstigmaWeight Bias (Gewichtsvorurteile) und Weight Cycling (Jo-Jo-Effekt). Was sich dahinter verbirgt und weshalb das so problematisch ist, erfährst du in diesem Artikel.

 

Anmerkung: Der Begriff „Mehrgewicht“ wird verwendet, um neutral und wertfrei über Körpervielfalt zu sprechen – im Gegensatz zu Begriffen wie „Übergewicht“ oder „Adipositas“, die medizinisch aufgeladen und oft pathologisierend wirken. „Über-“ setzt voraus, dass es ein „richtiges“ oder „normales“ Gewicht gibt – dabei ist Körpergewicht individuell und wird von vielen Faktoren beeinflusst. Viele Betroffene empfinden diese Begriffe als stigmatisierend. Wörter wie „dick“ oder „fett“ werden zunehmend selbstbestimmt und empowernd verwendet – als Teil einer Bewegung, die Sprache zurückerobert und entmystifiziert. Entscheidend ist dabei immer der Kontext und ob die Begriffe diskriminierend oder respektvoll gemeint sind.

 

Gewichtsstigma und Weight Bias:  Damit ist die Stigmatisierung und Voreingenommenheit gegenüber Menschen aufgrund ihres Gewichts gemeint. Mehrgewichtige Personen erfahren oft negative Zuschreibungen – etwa sie seien undiszipliniert oder selbst schuld an ihren Gesundheitsproblemen. Diese Vorurteile sind weit verbreitet. (Bacon & Aphramor, 2011)

Gewichtsstigma hat nachweislich schädliche Auswirkungen: Es führt zu sozialer Ausgrenzung, Stress und schlechterem seelischen Wohlbefinden. Studien zeigen sogar, dass Gewichtsstigma die Gesundheit direkt beeinträchtigen kann – es ist mit erhöhter Sterblichkeit und mehr chronischen Krankheiten assoziiert, völlig unabhängig vom Body Mass Index (BMI) (Tomiyama, 2018).

Ironischerweise trägt das Stigma selbst wiederum zu weiterer Gewichtszunahme bei: Wer sich ausgegrenzt oder beschämt fühlt, neigt eher zu Stressessen und gibt gesunde Gewohnheiten auf. (Tomiyama, 2018)

 

Besonders alarmierend: Gewichtsvorurteile „Weight Bias“ existieren auch im Gesundheitswesen. Viele Betroffene berichten von respektlosen Kommentaren oder geringerer Untersuchungsbereitschaft aufgrund ihres Gewichts. Tatsächlich sind Gewichtsvorurteile unter Ärzt*innen und Pflegepersonal gut belegbar – was dazu führt, dass adipöse Patient*innen oft schlechtere Behandlung und schlechtere gesundheitliche Ergebnisse erhalten. (Tomiyama, 2018) Dieses doppelte Stigma (gesellschaftlich und medizinisch) kann dazu führen, dass mehrgewichtige Menschen aus Angst vor Beschämung und unzureichender Behandlungserwatung Arztbesuche meiden – ein Teufelskreis, der ihre Gesundheit weiter belastet.

 

Weight Cycling (Jo-Jo-Effekt): Die meisten Diäten führen zwar kurzfristig zu Gewichtsverlust, doch auf lange Sicht halten ihn die wenigsten. Viele nehmen nach einiger Zeit wieder zu – nicht selten mehr als zuvor. Dieses wiederholte Abnehmen und Zunehmen nennt man Jo-Jo-Effekt. Es ist kein Randphänomen: Schätzungen zufolge erreichen viele Abnehmwillige nach 3–5 Jahren wieder ihr ursprüngliches Gewicht. (Suárez et al., 2024) Mindestens die Hälfte aller Menschen mit Adipositas erlebt solche Gewichtsschwankungen, sofern sie nicht dauerhaft extreme Lebensstiländerungen aufrechterhalten. Ein Faktor, der diesen Trend ebenfalls beeinflusst, ist die Darm-Hirn-Achse, die das Gewicht durch die Ausschüttung von Hormonen beeinflusst (Suárez et al., 2024). Bis zu zwei von drei Personen nehmen nach Diäten mehr zu, als sie abgenommen haben. (Mann et al., 2007)

 

Dieses Weight Cycling ist nicht nur frustrierend, sondern auch gesundheitsschädigend. Der Körper durchläuft dabei ständig Phasen von Kaloriendefizit und -überschuss, was Stoffwechsel und Organe belasten kann. Studien verknüpfen starkes Gewichtsschwanken mit zahlreichen negativen Folgen, etwa erhöhtem Risiko für Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Insulinresistenz oder Entzündungswerte. (Bacon & Aphramor, 2011) Besonders besorgniserregend: Mehrfaches Zu- und Abnehmen wurde in Forschung auch mit erhöhter Sterblichkeit in Verbindung gebracht. (Gaesser & Angadi, 2021) Mit anderen Worten: Ständige Gewichtsschwankungen könnten ungesünder sein, als das Halten von fast jedem Körpergewicht.

 

All diese Probleme zeigen: Ein strikter Fokus auf das Gewicht kann unbeabsichtigt genau das Gegenteil bewirken – nämlich gesundheitliche Schäden verursachen. Expert*innen stellen fest, dass der konventionelle, gewichtszentierte Ansatz (Abnehmen, um die Gesundheit zu fördern) für die meisten Menschen weder effektiv noch gesundheitsförderlich ist (Tylka et al., 2014). Statt langfristig dünnere, gesündere Körper zu schaffen, führt er häufig zu Essens- und Körperfixierung, Rückfällen im Gewicht, Frustration, niedrigem Selbstwertgefühl und sogar Essstörungen. (Bacon & Aphramor, 2011) Dazu kommt die erwähnte Gewichtsdiskriminierung, die wiederum negative Gesundheitsfolgen hat. All dies unterstreicht, warum ein Paradigmenwechsel nötig ist – weg vom Gewicht als zentralem Maß hin zu einem ganzheitlicheren Ansatz.

 

Gesundheitliche Folgen des Gewichts-Fokus

Welche konkreten gesundheitlichen Konsequenzen hat es, wenn Menschen und das Gesundheitssystem ihren Erfolg primär auf die Waage stellen? Einige wurden oben schon angedeutet:

 

1. Physische Belastungen: Der Körper reagiert auf wiederholte Diäten und Gewichtsschwankungen mit Stress. Beim Abnehmen fährt der Stoffwechsel herunter, beim Wieder-Zunehmen lagert der Körper oft rascher Fett ein – ein evolutiver Schutzmechanismus. Dieser Zyklus kann z.B. zu höherem Blutdruck, Cholesterin und Insulinresistenz beitragen. In der Tat deuten Studien darauf hin, dass diejenigen, die häufig Gewicht rauf und runter bewegen, ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme haben könnten als Menschen mit stabilem (auch höherem) Gewicht. (Gaesser & Angadi, 2021) Zudem können strenge Diäten Mangelzustände (Nährstoffdefizite) verursachen, wenn wichtige Nährstoffe weggelassen werden. In Summe gilt: Gewichtsreduktionsprogramme scheitern meistens langfristig – und die ständigen Schwankungen belasten den Organismus, anstatt ihn zu schützen.

 

2. Psychische Auswirkungen: Ein anhaltender Fokus auf das Gewicht kann die mentale Gesundheit erheblich beeinträchtigen. Viele Menschen entwickeln ein tiefsitzendes Gefühl des Versagens, wenn die Kilos zurückkehren. Die ständige Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zehrt am Selbstwertgefühl. Depressionen und Angststörungen können durch diese negative Selbstwahrnehmung begünstigt werden. Hinzu kommt die allgegenwärtige Botschaft „schlank = gesund/attraktiv“, die sozialen Druck erzeugt. Studien haben gezeigt, dass Gewichtsstigma zu chronischem Stress führt – der Körper schüttet etwa verstärkt Cortisol aus, was wiederum die psychische und körperliche Gesundheit beeinträchtigt. (Tomiyama, 2018) Dieser Stress kann emotionales Essen fördern und so einen Kreislauf aus Frust und Überessen befeuern. (Tomiyama, 2018) Nicht selten rutschen Betroffene in Essstörungen: Zum Beispiel kann eine harmlose Diät die Abkürzung zu Binge-Eating-Disorder (Essanfälle) oder Bulimie sein, gefördert durch den Mix aus Hungerphasen, Kontrollverlust und Schamgefühlen. Viele Studien warnen explizit, dass der Gewichtsverlust-Fokus mit erhöhtem Risiko für gestörtes Essverhalten und Essstörungen einhergeht. (Bacon & Aphramor, 2011) Gerade junge Menschen, die früh zum Kalorienzählen angehalten werden, entwickeln häufiger ungesunde Beziehungen zum Essen.

 

3. Vernachlässigung anderer Gesundheitsfaktoren: Wenn Gewicht zur einzigen Messgröße für Gesundheit wird, geraten andere wichtige Aspekte in den Hintergrund. Menschen fühlen sich vielleicht kerngesund – bewegen sich regelmäßig, essen ausgewogen –, haben aber trotzdem einen höheren BMI. Ein rein gewichtsorientierter Ansatz würde ihre Erfolge ignorieren und nur die Zahl auf der Waage bewerten. Umgekehrt können Menschen mit „Normalgewicht“ ungesunde Gewohnheiten haben, die übersehen werden, solange ihr BMI im Normbereich liegt. Die Fixierung auf Gewicht kann also von den eigentlichen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen ablenken. (Bacon & Aphramor, 2011) Zudem führt sie im Gesundheitswesen dazu, dass Ärzt:innen bei mehrgewichtigen Patient:innen Symptome vorschnell aufs Gewicht schieben („Nehmen Sie erstmal ab, dann sehen wir weiter“), statt andere Ursachen abzuklären. So bleiben Krankheiten unter Umständen länger unentdeckt. Insgesamt kann man sagen: Wer nur auf Gewichtsreduktion als Ziel schaut, ignoriert die komplexen Einflussfaktoren von Gesundheit – von Bewegung über Ernährung bis hin zu Stressbewältigung und sozialer Unterstützung.

 

Angesichts dieser Folgen wird deutlich, warum viele Fachleute einen Kurswechsel fordern. Selbst der Lancet, eins der ältesten und renommiertesten Wissenschaftsmagazine der Welt hat 2021 einen Call for papers veröffentlicht und um mehr gewichtsneutrale Forschung gebeten (Flint & Colosio, 2021).

Wenn ein Patient:innen nach dem x-ten Abnehmversuch deprimierter, schwerer und ungesünder dastehen als zuvor, läuft offensichtlich etwas falsch. Und wenn das so viele Personen betrifft, können wir auch nicht länger behaupten, dass alle selbst Schuld sind.

 

Was ist ein gewichtsneutraler Ansatz?

Ein gewichtsneutraler Ansatz bedeutet, Gesundheit unabhängig vom Körpergewicht zu betrachten. Das bekannteste Konzept in diesem Bereich ist Health at Every Size (HAES), zu Deutsch etwa „Gesundheit bei jedem Gewicht“ – und nicht etwas „Gesund bei jedem Gewicht“ bedeutet. Dieser Ansatz wurde entwickelt, weil beobachtet wurde, dass der Diätkultur- und Schlankheitswahn mehr schadet als nützt. (Tylka et al., 2014) Die Grundidee: Menschen haben unterschiedliche Körperformen und -größen, und alle verdienen Respekt und bestmögliche gesundheitliche Unterstützung – egal, was die Waage anzeigt.

 

Wichtige Prinzipien eines gewichtsneutralen Ansatzes sind:

 

1.     Gewicht ist kein Gesundheitsmaßstab: Statt Gewicht oder BMI als Maßstab für Gesundheit zu nehmen, wird der Fokus direkt auf konkrete gesundheitliche Parameter gelegt. Der Ansatz lehnt die Gleichsetzung „dick = ungesund“ ab, ohne die Risiken von extrem hohem oder geringem Gewicht zu ignorieren. Entscheidend ist aber: Gewicht wird als Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Genen, Umwelt und Verhalten gesehen – nicht bloß als Produkt von Willenskraft. (Tylka et al., 2014)

Daher gilt es als unfair und unwirksam, Menschen rein über ihr Gewicht zu beurteilen. Gesundheit soll für alle Körpergrößen möglich sein, und Verbesserung der Gesundheit kann unabhängig von Gewichtsveränderungen stattfinden.

 

2.     Fokus auf gesundheitsfördernde Verhaltensweisen: Anstatt Kalorien und Kilos zu zählen, ermutigt der gewichtsneutrale Ansatz zu nachhaltigen Lebensstiländerungen, die Wohlbefinden fördern. Dazu gehören ausgewogene Ernährung, ausreichend Bewegung, Stressreduktion, genügend Schlaf und Selbstfürsorge. Das Ziel ist, Risikofaktoren wie Bluthochdruck, hohe Blutzucker- oder Cholesterinwerte direkt anzugehen – durch Ernährungstherapie oder Bewegung –, auch wenn sich am Gewicht nichts oder nur wenig ändert. Wichtig: Hierbei gibt es keinen Endpunkt Idealsegment; jede kleine Verbesserung im Verhalten wird als Erfolg gewertet, selbst wenn die Person weiterhin mehrgewichtig bleibt. Studien untermauern diesen Ansatz, denn viele Gesundheitsparameter lassen sich direkt verbessern, ohne dass eine Gewichtsabnahme erforderlich ist. (Gaesser & Angadi, 2021)

 

3.     Respektvolle, diskriminierungssensible Versorgung: Ein gewichtsneutraler Ansatz bemüht sich aktiv darum, Gewichtsstigma abzubauen. Das heißt, Gesundheitsdienstleister sollen Vorurteile hinterfragen und alle Patient*innen gleich ernst nehmen – ob dünn oder dick. Praktisch bedeutet das z.B., in Kliniken Blutdruckmanschetten bereitzuhalten, die für dicke Menschen geeignet sind, oder sensible Sprache zu verwenden. Es geht darum, Größe und Körpervielfalt zu akzeptieren und die Gesundheit der einzelnen Person in den Vordergrund zu stellen, nicht gesellschaftliche Schönheitsideale. Der gewichtsneutrale Ansatz betont ausdrücklich ethische Prinzipien wie Non-Maleficence (nicht schaden) und Beneficence (Gutes tun) – sprich, Maßnahmen sollen helfen, ohne neue Schäden wie Stigmatisierung zu verursachen. (Tylka et al., 2014)

 

Das führt zu einer empathischeren Betreuung: Anstatt jemanden zu drängen, „endlich abzunehmen“, bespricht man lieber gemeinsam, wie Blutdruck oder Gelenkschmerzen gelindert werden können – mit Maßnahmen, die Patient:innen auch umsetzen können und die nicht an schnelles Gewicht verlieren geknüpft sind.

 

4.     Intuitives Essen statt Diäten: Ein Kernaspekt von gewichtsneutraler Gesundheitsförderung ist Intuitives Essen, also das Vertrauen auf die eigenen Körpersignale beim Essen. Statt strengen Diätplänen oder Kalorienzählen lernen Menschen, auf Hunger- und Sättigungsgefühle zu achten und alle Lebensmittel in Maßen zu genießen, ohne sie in „gut“ und „böse“ einzuteilen. Die Idee dahinter: Der Körper reguliert das Gewicht weitgehend selbst, wenn man ihm gibt, was er braucht, und aufhört, wenn man satt ist. Studien zeigen, dass intuitives Essen mit besserer psychischer Gesundheit und weniger gestörtem Essverhalten einhergeht. (Tylka et al., 2014)

Menschen, die nach ihren inneren Signalen essen, haben z.B. weniger Essanfälle und fühlen sich wohler in ihrem Körper. Gewichtsneutrale Gesundheitsförderung bietet Strategien, wie man nach Jahren der Diäten wieder zum Körpervertrauen zurückfindet – etwa indem man alle Lebensmittel erlaubt (keine Verbote, die Heißhunger nur verstärken) und bewusst auf Genuss und Körpergefühl beim Essen achtet. Das Ergebnis sind oft ausgewogenere Ernährungsgewohnheiten und weniger Schuldgefühle beim Essen.

 

5.     Freude an Bewegung: Während im gewichtsorientierten Ansatz Sport oft als Mittel zum Kalorienverbrennen und Abnehmen propagiert wird („no pain, no gain“), setzt der gewichtsneutrale Ansatz auf Spaß an körperlicher Aktivität. Jeder Mensch sollte eine Form der Bewegung finden, die ihm oder ihr liegt – sei es Tanzen, Spazierengehen, Schwimmen oder Gartenarbeit. Bewegung wird hier nicht als Strafe fürs Essen gesehen, sondern als Bereicherung für den Alltag, die Fitness, Kraft und Stimmung verbessert. Forschung unterstützt diesen Zugang: Körperliche Aktivität aus Freude, nicht Zwang, führt eher dazu, dass Menschen langfristig dabeibleiben, und verbessert nachweislich Wohlbefinden und Körperbild. (Tylka et al., 2014) Es geht also darum, einen aktiven Lebensstil zu fördern, ohne den ständigen Druck der Waage. Ein mehrgewichtiger Mensch, der regelmäßig Fahrrad fährt, gesund kocht und Spaß daran hat, tut enorm viel für seine Gesundheit – unabhängig davon, ob er signifikant Gewicht verliert. Gewichtsneutrale Gesundheitsförderung würde sagen: Diese Person lebt gesund, egal was der veraltete Body Mass Index meint.

 

Zusammengefasst zielt ein gewichtsneutraler Ansatz darauf ab, Gesundheitsverhalten und Selbstakzeptanz in den Vordergrund zu stellen, anstatt Gewichtsziele. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz: körperliche Gesundheit, psychisches Wohlbefinden und soziale Faktoren (wie Stigmavermeidung) werden gleichermaßen berücksichtigt. Wichtig: „Gewichtsneutral“ heißt nicht, dass Gewicht völlig unwichtig wäre oder dass extrem hohes oder geringes Gewicht keine Risiken birgt. Es heißt nur, dass Gewichtsabnahme nicht das primäre Ziel ist. Stattdessen wird angenommen: Wenn Menschen gesund leben und gut betreut werden, pendelt sich ihr Körpergewicht dort ein, wo es individuell richtig ist. Dieses Gewicht muss nicht dem gesellschaftlichen Ideal entsprechen – und trotzdem kann die Person metabolisch gesund und glücklich sein.

 

Wissenschaftliche Belege für den gewichtsneutralen Ansatz

Ein Paradigmenwechsel weg vom Gewichtsfixierung braucht natürlich belastbare Belege. Tatsächlich gibt es inzwischen zahlreiche Studien, RCTs (randomisiert-kontrollierte Studien) und Metaanalysen, die den gewichtsneutralen Ansatz unterstützen. Hier einige wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse:

 

1.     Verbesserte körperliche Gesundheitswerte: Mehrere randomisierte Studien haben gezeigt, dass gewichtsneutrale Programme ohne Gewichtsverlust klinisch relevante gesundheitliche Verbesserungen erzielen können. Teilnehmerinnen eines gewichtsneutralen Programms zeigten z.B. gesunkene Blutdruck- und Cholesterinwerte, verbesserte Blutzuckerwerte und Entzündungsmarker – vergleichbar mit den Effekten klassischer Gewichtsreduktionsprogramme. (Bacon & Aphramor, 2011)

Ein Review fasst zusammen, dass die meisten kardiometabolischen Risikofaktoren (vom Blutzucker bis zu den Blutfetten) durch Ernährung und Bewegung verbessert werden können, selbst wenn das Gewicht stabil (Gaesser & Angadi, 2021).

Mit anderen Worten: Man kann fitter und gesünder werden, ohne zwangsläufig leichter zu werden. Wichtig ist was man tut, nicht was die Waage sagt. Langzeitstudien deuten zudem an, dass solche verhaltensorientierten Verbesserungen oft nachhaltiger sind – weil Leute ihre Gewohnheiten beibehalten, statt nach einer crash-Diät in alte Muster zurückzufallen.

 

2.     Fitness zählt mehr als Fettmasse: Epidemiologische Daten untermauern die These, dass körperliche Fitness ein entscheidenderer Gesundheitsfaktor ist als das Körpergewicht. So fand eine große Übersichtsarbeit, dass das erhöhte Sterblichkeitsrisiko von Adipositas praktisch verschwindet, wenn die Person eine gute kardiorespiratorische Fitness hat. (Gaesser & Angadi, 2021) Ein „fitter Dicker“ kann also gesünder sein als ein „unkonditionierter Dünner“. Steigert ein mehrgewichtiger Mensch seine Ausdauer (etwa durchs regelmäßige Training), sinkt sein Gesundheitsrisiko drastisch – selbst wenn er kein Kilo abnimmt. Umgekehrt hat Gewichtsabnahme alleine in 31 RCTs keinen verlässlichen Effekt auf die Sterblichkeit gezeigt. (Gaesser & Angadi, 2021)

In einer Metaanalyse der Daten war eine höhere Fitness konsequenter mit geringerer Sterblichkeit assoziiert als Gewichtsveränderungen. (Gaesser & Angadi, 2021)

Zudem bestätigte die Analyse, dass Weight Cycling mit negativen Outcomes einhergeht, u.a. höherer Sterblichkeit. (Gaesser & Angadi, 2021)

Diese Befunde sprechen dafür, in der Gesundheitsprävention lieber auf Bewegung und Fitness zu setzen, statt Menschen primär zum Abnehmen zu drängen. `Bewegung ist Medizin` – dieser Slogan trifft besonders im Kontext von Mehrgewicht zu.

 

3.     Psychisches Wohlbefinden und Verhalten: Gewichtsneutrale Interventionen führen nicht nur zu körperlichen, sondern auch zu psychosozialen Verbesserungen. Randomisierte Studien berichten von höherer Lebensqualität, weniger Depressionssymptomen und gesteigertem Selbstwertgefühl bei gewichtsneutralen Teilnehmer:innen im Vergleich zu herkömmlichen Diätgruppen. (Suárez et al., 2024) (Bacon & Aphramor, 2011)

 

Insbesondere das Verhältnis zum Essen normalisiert sich: Durch intuitive Ernährungsansätze reduzieren sich Heißhungerattacken und Essanfälle, die Betroffenen entwickeln ein entspannteres Essverhalten und bessere Wahrnehmung von Sättigung. (Suárez et al., 2024)

 

Auch Körperbild und Selbstakzeptanz verbessern sich messbar, weil der Druck des unrealistischen Schönheitsideals genommen wird (Bacon & Aphramor, 2011) Diese psychologischen Vorteile sind enorm wichtig – denn eine gute mentale Gesundheit unterstützt wiederum die körperliche Gesundheit. Interessanterweise zeigen Langzeitergebnisse, dass Menschen in gewichtsneutralen Programmen ihre gesunden Gewohnheiten länger beibehalten. In einem 2-Jahres-Vergleich hatten Teilnehmer eines gewichtsneutralen Programms weiterhin regelmäßige moderate Bewegung und achtsames Essverhalten integriert, während eine klassische Diätgruppe die meisten Veränderungen nicht aufrechterhalten konnte (Bacon & Aphramor, 2011) Die höhere Zufriedenheit und Genussorientierung im gewichtsneutralen Ansatz führt also zu besserer Compliance. Und das Endresultat: Verbesserte Gesundheitsindikatoren ohne die Nebenwirkungen des Jojo-Effekts oder einer Diätkultur voller Schuldgefühle (Bacon & Aphramor, 2011)

 

 

Die wissenschaftlichen Belege zugunsten eines gewichtsinklusiven Ansatzes sind mittlerweile so stark, dass Fachleute von einem notwendigen Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik sprechen (Bacon & Aphramor, 2011).

 

Anstatt Ressourcen in immer neue Diätprogramme oder öffentliche Schlankheitskampagnen zu stecken, sollten wir Maßnahmen fördern, die für alle Gewichtsgruppen Gesundheit bringen – z.B. Bewegungsprogramme, Ernährungsbildung ohne Diätdruck, und Anti-Stigma-Initiativen im Gesundheitswesen. Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mahnt, dass Gewichtsdiskriminierung ein ernstes Hindernis im Kampf gegen chronische Krankheiten ist und abgebaut werden muss, um Gesundheitsgerechtigkeit zu erreichen. (WHO, 2017)

 

Fazit

Ein Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem hin zu einem gewichtsneutralen Ansatz ist nicht nur aus ethischer Sicht (Würde und Respekt für alle Patienten) wünschenswert, sondern auch wissenschaftlich begründet. Der gewichtsorientierte Ansatz hat Probleme wie Stigma, Weight Cycling und limitierte Nachhaltigkeit, während ein Fokus auf Verhalten und ganzheitliche Gesundheit nachweislich bessere Resultate erzielen kann – physisch wie psychisch. Gesundheit ist mehr als eine Zahl auf der Waage. Indem wir das anerkennen und den Menschen helfen, ohne Scham und Diätzwang gesundheitsförderliche Gewohnheiten zu entwickeln, können wir tatsächlich für Gesundheit bei jedem Gewicht sorgen.

 

Damit würde der Druck von den Einzelnen genommen, ständig gegen ihren Körper zu kämpfen. Stattdessen können sie lernen, mit ihrem Körper für ihre Gesundheit zu arbeiten. Ein solcher Wandel erfordert zwar ein Umdenken bei Ärzt:innen, Politik und Gesellschaft – aber die potenziellen Gewinne an Lebensqualität und Gesundheit machen ihn zu einem lohnenden Ziel.

 

 


 

 

Quellen

 

Bacon, L., & Aphramor, L. (2011). Weight science: Evaluating the evidence for a paradigm shift. Nutrition Journal, 10, 9. https://doi.org/10.1186/1475-2891-10-9

 

Flint, S. W. & Colosio, A. (2021). Reframing obesity health care from policy to practice: a call for papers. EClinicalMedicine43, 101256. https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2021.101256

 

Gaesser, G. A., & Angadi, S. S. (2021). Obesity treatment: Weight loss versus increasing fitness and physical activity for reducing health risks. iScience, 24(10), 102995. https://doi.org/10.1016/j.isci.2021.102995

 

Mann, T., Tomiyama, A. J., Westling, E., Lew, A., Samuels, B. & Chatman, J. (2007). Medicare’s search for effective obesity treatments: Diets are not the answer. American Psychologist, 62(3), 220–233. https://doi.org/10.1037/0003-066x.62.3.220

 

Puhl, R. M., & Heuer, C. A. (2009). The stigma of obesity: A review and update. Obesity, 17(5), 941–964. https://doi.org/10.1038/oby.2008.636

 

Suárez, R., Cucalon, G., Herrera, C., Montalvan, M., Quiroz, J., Moreno, M., Sarmiento-Andrade, Y. & Cabañas-Alite, L. (2024). Effects of health at every size based interventions on health-related outcomes and body mass, in a short and a long term. Frontiers in Nutrition, 11. https://doi.org/10.3389/fnut.2024.1482854

 

Tomiyama, A. J. (2014). Weight stigma is stressful: A review of evidence for the Cyclic Obesity/Weight-Based Stigma model. Appetite, 82, 8–15. https://doi.org/10.1016/j.appet.2014.06.108

 

Tomiyama, A., Carr, D., Granberg, E. et al. How and why weight stigma drives the obesity ‘epidemic’ and harms health. BMC Med 16, 123 (2018). https://doi.org/10.1186/s12916-018-1116-5

 

Tylka, T. L., Annunziato, R. A., Burgard, D., Daníelsdóttir, S., Shuman, E., Davis, C., & Calogero, R. M. (2014). The weight-inclusive versus weight-normative approach to health: Evaluating the evidence for prioritizing well-being over weight loss. Journal of Obesity, 2014, 983495. https://doi.org/10.1155/2014/983495


World Health Organization (WHO), Regional Office for Europe (2017). Weight bias and obesity stigma:

considerations for the WHO European Region. www.euro.who.int. WHO/EURO:2017-5369-45134-64401

 
 
 

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